Vor dem Mann stand ein Glas Wasser. Es war zu drei Vierteln gefüllt. Gierig griff er danach und stürzte das Wasser den Rachen hinunter. Er hatte es noch nicht vollständig geleert, da griff er schon wieder nach der Karaffe und füllte es auf. Er goss es so voll, dass das Wasser überschwappte.
„Wäre es nicht sinnvoller, erst auszutrinken und dann nachzugießen?“, unterbrach in ein alter Mann. „Du verschüttest ja alles.“
„Meine Kehle ist so trocken wie Schmirgelpapier“, keuchte der Mann und nahm wieder einen großen Schluck. „Der Weg hierher war weiter, als ich dachte. Stunden bin ich marschiert, ohne einen einzigen Tropfen Wasser.“
„Dein Durst wird nicht rascher gestillt, wenn du die Hälfte des Wassers verschüttest.“
Wieder nahm der Mann die Karaffe und goss das Glas so voll, dass das Wasser überlief.
„Wie lange dengelst du eine Sense?“, fragte der Alte.
„Wie lange ich eine Sense dengele? Bis sie so scharf wie möglich ist!“
„Würde es nicht ausreichen, sie so lange zu hämmern, bis sie scharf genug ist?“
„Wie meinst du das?“
„Na, bis sie scharf genug ist, um ihren Zweck zu erfüllen. Scharf genug, um Getreide zu ernten. Wenn du die Sense schärfer machst, als sie sein muss, bedeutet das nicht, dass sie länger scharf bleibt. Du nutzt nur das Metall schneller ab und gehst die Gefahr ein, dich leichter daran zu schneiden.“
Der Mann hob seinen Kopf und drehte sich zum Alten um. „Ich verstehe immer noch nicht!“
„Ein Glas ist für eine bestimmte Menge von Wasser gefertigt. Du produzierst Überfluss. Du machst das Glas voller, als es verträgt. Zu voll. Und wenn du die Sense schärfer machst, als nötig, ist das ebenso überflüssig. Achte den leeren Raum – Wisse, wann es genug ist! Das gute Leben stellt sich ein, wenn man gerade genug hineingelassen hat und sich noch leeren Raum bewahrt. In einem überfüllten Leben hat nichts mehr Platz. Wenn du deine Aufmerksamkeit auf den leeren Raum richtest, wirst du wahrnehmen, dass alles, was du hast, genügt.“
„Was meinst du damit?“
„Ich will dir sagen: Neuen Möglichkeiten Raum zu schenken, ist genauso wertvoll wie Erreichtes.“
„Vom Mann, der auszog, um den Frühling zu suchen“
Clara Maria Bagus
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.